... nach 38 Jahren
Der Hitze der Welt in jeder Hinsicht zu entkommen ist ein schwer nicht anzunehmendes Angebot, das Norwegen seinen Besuchern unterbreitet. Vor ein paar Jahrzehnten konnte hier jeder Dritte nicht lesen, und wer nicht von der Landwirtschaft oder der Fischerei leben konnte, konnte eher gar nicht leben.
Schon vor tausend Jahren sind von hier Wirtschaftsflüchtlinge aufgebrochen, die etwas Bessres als den Tod irgendwo zu finden bereit gewesen sind. Einige kamen bis zu einem großen Kontinent im Westen, waren aber klug genug, das nicht an die große Glocke zu hängen.
Andere plünderten sich als Piraten quer durch die Geografie, gelangten bis Byzanz und wurden Könige von Sizilien, Herzöge der Normandie und Könige von England.
In ihrer ursprünglichen Heimat passierte viele Jahrhunderte lang eher wenig. Die Norweger wurden abwechselnd von den Dänen und den Schweden unterworfen, schlugen sich lange dunkle Nächte um die Ohren und warteten auf ihre Stunde.
Die schlug in den glücklichen Jahrzehnten, als reiche Länder kurzfristig keine Kriege miteinander führten, sondern ärmere als Kolonien noch ärmer machten und selber kräftig wuchsen. Für die riesig werdenden Städte brauchte man Holz und Fische für die Bevölkerung, und das konnte Norwegen bieten.
Noch viel erfreulicher wurden die Abendnachrichten der Norweger, als in ihren leer gefischten Gewässern zwar die Fische immer seltener, darunter aber plötzlich Öl und Gas in nicht enden wollenden Mengen gefunden wurden.
Inzwischen gehört ein Prozent aller Aktien weltweit dem norwegischen Staatsfonds, und auf dem Papier ist jeder Norweger Millionär. Die einst kargen Holzhäuser sind nun prächtige ”Hütten” mit Weinkeller und Jacuzzi, vor denen zwei oder drei Tesla stehen.
Als Gastarbeiter und für niedere Tätigkeiten leistet man sich Schweden, weil die billig in der Erhaltung und genügsam sind. In Gastronomie und Tourismus arbeiten im Sommer kleine Einheimische, damit sie erfahren, wie unbefriedigend echte Arbeit ist und das später möglichst unterlassen können. Diese semi-alphabetisierten Jugendlichen sind vollkommen desinteressiert daran, wie es irgendwelchen Kunden und Gästen aus einem der unzähligen ärmeren Ländern bei ihnen geht. Sie wollen bloß schnell erwachsen werden und dann nie wieder arbeiten müssen.
Aus dieser Grundhaltung resultiert gegenwärtig ein spannender kleiner Konflikt: Norwegen ist in Mode. Das gilt nicht mehr für die komischen Pullover, nach denen die Bewohner einst benannt worden waren, und es passiert, obwohl immer noch jeder ausländische Besucher eine perfekte Kopie von Munchs "Schrei" darstellt, wenn er seine erste Rechnung für ein Bier bekommt.
Aber während andere Teile der Erde mehr oder weniger langsam verglühen, Innenstädte zu unfreiwilligen Begegnungszonen zwischen äußerst unterschiedlichen Kulturen und Geschlechtern werden und immer mehr einst liebliche Destinationen unter bedingungslosem Toomuchism zusammenbrechen, bietet das riesige Land im hohen Norden Kühle, Platz und Sicherheit.
Stellvertretend dafür seien die Lofoten erwähnt: diese Inselgruppe liegt so abseits, dass ich sie im vorletzten Jahr meines Lebens als Reisender erstmals besuchte.
Sie sind eine hundert Kilometer lange schroffe Felswand, die schon drei Milliarden Jahre alt war, als der Rest der Erde sich zuletzt zu falten begann. Das ist also wirklich verdammt alt, und weil sie auch noch ziemlich schöne Landschaften beinhalten, nennt man sie die Inseln der Götter am Polarkreis.
Vor vielen Häusern (mit Weinkeller und Jacuzzi, Tesla und zusätzlicher Garage für das Golfcart) stehen noch die Gerüste, an denen man vorgestern noch den Kabeljau zum Trocknen aufhing. Diese Trockenfische gibt es noch (sie schmecken wie Kaugummi, der nach altem Fleisch schmeckt), aber sie werden inzwischen als Futter für Kamele nach Afrika geschickt, von wem auch immer wo auch immer. Auf den Lofoten jedenfalls passiert das nicht mehr.
Die etwa 80 Inseln sind inzwischen alle durch Tunnel oder mit Brücken miteinander verbunden, sodass Flixbus-Reisen wie meine gegenwärtige an einem Tag die ganze einen Kilometer hohe und hundert Kilometer lange steinerne Wand passieren können, vorbei an Buchten und Fjorden von überirdischer Schönheit. Diese Schönheit kommt in erster Linie an den zehn bis zwölf Tagen eines Jahres ohne Regen und Stürme zur Geltung, dann aber wirklich.
Da sich das herumgesprochen hat, zieht es seit ein paar Jahren alle dorthin, die auf Bruce Chatwins Spuren schon Patagonien besucht und die äthiopischen frühchristlichen Kirchen als überlaufen empfunden haben. Wer die Orkneys als Tummelplatz irgendwelcher Whisky saufender Proleten abgeschrieben hat, Bali als Ballermann der Australier zu hassen gelernt und eine Fahrt mit der Transsibirischen verpasst hat, solange das noch ethisch vertretbar gewesen war, muss nun auf die Lofoten, um die endgültige Einsamkeit des letzten verbliebenen irdischen Paradieses kennenzulernen.
Von Bodø aus gelangt man per Fähre in drei Stunden auf die Lofoten. Einzig und allein um endlich einmal wirklich in A gewesen zu sein, dirigierte ich meinen Fahrer als erstes in diesen Ort, der wirklich “Å” heißt. Nun kann ich sagen, im A gewesen zu sein, und es ist ganz bezaubernd. Da es offensichtlich viele leicht Erheiterbare wie mich gibt, ist schon das Ortsschild mit unzähligen Stickern aus aller Welt verziert.
Besonders gefallen hat mir eine Variante des größten mir bekannten Marketing-Coups: das ovale gelbe Pickerl mit dem einfachen Text “Nett hier. Aber waren Sie schon in Baden Württemberg?” fand ich schon an der Chinesischen Mauer und in der Sahara, auf Galapagos und in St. Pölten. Dieses Glanzstück gelungener Fremdenverkehrswerbung wird mittlerweile VERKAUFT, so populär ist es. In Berlin fahren städtische Busse, deren sichtlich leidgeplagte Fahrer nichts dagegen tun können, diesen Slogan durch ihren Kiez zu kutschieren. Und hemmungslose CI-Hacker haben Kopien angefertigt, deren eine ich am Ortseingang von “Å” vorfand: “Nett hier. Aber warst du schon mit Marvin und Gerrit saufen?”
Å besteht aus einem Laden, der Souvenirs anbietet, sieben Häusern sowie einem riesigen Parkplatz. Letzterer war voll, und wie sich bald herausstellte, teilte er dieses Schicksal mit allen anderen Parkplätzen der Inseln (und einigen italienischen Touristen, die vielleicht im Lotto gewonnen hatten). Hunderte Wohnmobile ästen friedlich nebeneinander, mit Kennzeichen, die von Albanien bis Zypern reichten. Der Weiler war gut gefüllt mit Besuchern aus der ganzen Welt, die alle einen dieser Fjällräven -Rucksäcke trugen, die auf jedem Kinderspielplatz in den gesegneten Bobo-Vierteln Europas allgegenwärtig sind und einen schlanken Hunderter kosten. Seit ich die in Vietnam als Originale um acht Euro gesehen habe, bin ich die Globalisierung betreffend einigermaßen nachdenklich geworden.
Die auch gut gefüllten italienischen Touristen und alle anderen beiseite lassend, erklomm ich einen Hügel hinter dem Parkplatz und blickte staunend in einen pazifisch grünen Fjord. Davor hatte jemand eine dieser zinnoberroten Hütten aus Holz (innen vermutlich Marmor aus Carrara) drapiert, und das allein wäre mir den Ausflug in den A der Welt schon wert gewesen.
Wir tuckerten dann quer über die Lofoten, hielten an jedem zwanzigsten Aussichtspunkt und beschlossen gegen Mittag langsam hungrig geworden zu sein. Zu diesem Zeitpunkt befanden wir uns etwa in der Mitte der Inselgruppe, und abgesehen von hinreißenden Aussichtspunkten wimmelte es von gar nichts. Die paar spärlichen Dörfer hatten manchmal eine Tankstelle und häufig einen Supermarkt, ein Café oder ein Restaurant jedoch, das auch offen war, blieb unfindbar. Rund um die tausenden Wohnmobile saßen deren Betreiber auf Camping-Stühlen und verzehrten offensichtlich Knäckebrot aus dem Supermarkt mit Aufstrich aus Tuben oder Mitgebrachtes aus der Heimat, wie die fröhlichen Holländer mit ihren Kartoffelsäcken, die sie bis in die Anden mitführen, weil ihnen Erdäpfel, die nicht chemiegeschwängert aus ihren Glashäusern kommen, suspekt sind.
Irgendwann dirigierte ich unseren Bus an eine besonders pittoreske Küste, wo in Google Maps auch zwei Restaurants eingezeichnet waren. Zur Sicherheit ließ ich auf halbem Weg halten, sprang aus dem Bus und fragte einen älteren Herrn, der seinen Hund ausführte, ob er der Gegend kundig wäre. “Ich wohne hier.”, meinte er. “Schon immer.”.
“Das ist großartig, herzlichen Glückwunsch!”, erwiderte ich. Auf meine Frage, ob eines der beiden Restaurants offen habe, überlegte er. “Ja, es gibt da unten zwei Restaurants.” Nun war ich am Ziel. Wir würden nicht Hungers sterben auf den Lofoten. “Aber ich bin da noch nie gewesen.” lautete die Fortsetzung dieses älteren Herrn, der seit sieben Jahrzehnten in einem Kaff am Ende der Welt und unweit dessen A lebt.
Es stellte sich später heraus, nachdem wir HotDogs in einer Tankstelle zu uns genommen hatten, dass die Restaurants auf den Lofoten ausschließlich abends von 17 bis 19 Uhr geöffnet sind.
Wer also auf der Suche nach der finalen Einsamkeit die Inseln der Götter aufsucht und sich in einem nicht enden wollenden Stau von Wohnmobilen wiederfindet, tut gut daran, Campingkocher und dergleichen mitzubringen, um die Einheimischen nicht mit ausgefallenen Wünschen zu belästigen. Irgendwie bewundere ich diese Typen dafür, eben nicht an jeder Ecke die Infrastruktur für Massentourismus hinzustellen, auch wenn Overtourism selbst dort längst angekommen ist. In Spanien gäbe es an jeder Kreuzung Tapas-Bars und Andenkenläden ohne Ende, in den USA wären die Lofoten eine einzige Shopping-Mall.
Es schließen auch norwegenweit die Geschäfte um sechs, da es danach noch zehn Stunden hell ist und man mit dem angebrochenen Nachmittag noch alles Mögliche anfangen kann. Ein ganzes Leben lang nicht in eines der beiden Restaurants gehen, die es um die Ecke gibt, zum Beispiel.
Dass die Norweger generell nicht zuviel Aufhebens um Besucher machen, zeigt sich auch daran, dass selbst durchaus gehobene Hotels ausschließlich skandinavische Fernsehkanäle anbieten. Das ist auch deswegen bemerkenswert, weil sich diese durch den Mut zu Retro auszeichnen: die seligen “Russisch für Anfänger” - Sendungen von Lisa Schüller als Straßenfeger im Schichtarbeiterprogramm des ORF würden Norweger niemals ohne eine dringliche Warnung den Jugendschutz betreffend hervorzuheben ausstrahlen. Finnische Nachrichten erklären hervorragend, warum es dort ein eigenes Wort dafür gibt, sich vor dem Fernseher in der Unterhose zu betrinken, und in Schweden wird Eheberatung mit Strindberg-Verfilmungen in schwarz-weiß, Moll und ausschließlich von Ingmar Bergman zur besten Sendezeit als edukatorisch wertvoll angesehen.
Oberflächliche Schenkelklopfer wie BBC oder CNN mutet man den Touristen in den großen norwegischen Hotelketten nicht zu. Schließlich wohnen dort in den finsteren acht Monaten des Jahres einheimische Reisende, die dringend in Stavanger Ölgeschäfte erledigen müssen, und die sind zu sensibel für Action aus Hollywood oder Nachrichten aus London.
Nun nähert sich das Ende einer Reise, die in den Achtzigern das erste und jetzt das zweite und letzte Mal ans Nordkap geführt hat.
Sagen wir, es waren 600. Das könnte hinkommen.
1984-1989, ein paarmal danach, ab 2004 wieder ständig: war ich beruflich auf Reisen. Mal 4, mal 18 Tage pro Tour, einmal 113 Tage ohne Pause und Heimkommen, lange über 200 Tage im Jahr, durchschnittlich acht Tage pro Trip, 25mal jedes Jahr.
Sagen wir, es waren 600 Reisen, die ich unternommen habe.
Heuer kommen noch vier oder fünf dazu, nächstes Jahr wohl ungefähr 20. Also noch 25 Reisen. 95% sind absolviert.
Das werden dann nicht viel weniger als 5.000 Tage gewesen sein, oder an die 14 Jahre ohne Unterbrechung, mit den privaten Reisen kommt noch einiges dazu, und nicht wenig. Über den Daumen zehnmal so viel war ich unterwegs wie die meisten der Wenigen, die regelmäßig Urlaub haben und auf Reisen gehen, auch wenn ich selten Urlaub suchte.
Das ist viel, es war mir nicht in die Wiege gelegt. Es war das Äußerste, aus einem kleinen ein nicht so kleines Leben zu machen. “Mir war die Erde Untertan, nun ist es umgekehrt” habe ich spaßeshalber einmal für meinen Grabstein vorgeschlagen.
An den Küsten Skandinaviens werden Hotelanlagen gebaut für die Zeit, wenn auch die letzten Sonnenanbeter am Mittelmeer keine Erfrischung mehr finden in 30 Grad warmem Wasser und bei 40 Grad Lufttemperatur. Man ist gerüstet, und man weiß, dass es schon losgeht. Overtourism wird diesen Teil der Welt nicht so schnell zerstören, dafür sind die Länder zu groß, und zigtausend Kilometer Küste vertragen noch ein paar Wohnmobile.
Moderne Architektur und Kochkunst feiern im Norden Triumphe, im Glücksindex sind die Menschen hier ganz vorne, ihre Kinder wirken gesund und ihre Demokratien unzerstörbar.
Es ist kein Wunder, dass Norwegens Hymne mit den Worten beginnt: "Ja, wir lieben dieses Land!”
Reisen ist die perfekte Prokrastination, habe ich vor kurzem bei Paul Theroux gelesen. Alle Mühsal des Alltags ist bis auf weiteres aufgeschoben. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.
Wer noch ein paar Bilder einer langen Reise zum Kap sehen möchte:
https://photos.app.goo.gl/MGrrDVPoBTmUEUYW8
Liebe Grüße,
Alex