Weihnachten und viel mehr

Wie jedes Jahr stelle ich eine Geschichte in meinen Blog, die mir “Weihnachten” geworden ist:

Axel Corti war neben so vielem anderen ein großer Regisseur, aber eben auch ein wahrlich begnadeter Wortbildhauer, und er hatte fast ein Vierteljahrhundert lang eine allsonntägliche zuerst 15-, später zehn-, zuletzt achtminütige Sendung im Hörfunk, „Der Schalldämpfer“ hieß die.

Die Kennmelodie zu hören hieß, sich entscheiden zu müssen: ganz zuhören, oder abdrehen. Das lag an der Sprache, der Genauigkeit, der Strenge, in der Axel Corti sich uns mitteilte, aber vor allem natürlich daran, was er zu sagen hatte, und dieser Mann hatte viel zu sagen. Im nachhinein kommt es mir so vor, als wären das Predigten gewesen in Zeiten und zu Menschen, die keine Predigten mehr hören konnten, aber so was schon, einige jedenfalls, zumindest hin und wieder. Und es gab noch Leute, die diesen einigen das dann zumuteten, Sonntag für Sonntag, vom Mai 1969 bis zu jenem Weihnachten 1993.

Seine allerletzte Sendung wurde am 26. Dezember 1993 ausgestrahlt. Drei Tage später starb dieser Querdenker und Regisseur, er ging “in die andere, in die wirkliche Welt“.
An besagtem 26. Dezember, es war natürlich wieder Sonntag, atmete Axel Corti hörbar schwer und sprach zerhackter als sonst. Auch der Inhalt war ein besonderer: er sprach über Weihnachten – und von uns.

Es geht so viel verloren ohne seine Stimme, aber was soll’s:

Rabbi Hillel – erzählt von Axel Corti

“Rabbi Hillel, dem großen, weithin gerühmten, dem weisen Rabbi Hillel, der verehrt wurde von seinen Schülern und Anhängern wie kein anderer und der doch ein ganz bescheidener, stiller Mann geblieben war zeit seines Lebens, dem Rabbi Hillel gelang es, wie die chassidischen Legenden berichten, für einen kurzen Augenblick aus dem Jenseits zurückzukommen. Ja, so stark waren seine spirituellen Kräfte, so tief war die Frömmigkeit des Rabbi, dass ihm solches, ja, erlaubt wurde.

Denn er lag auf seinem Sterbebett. Auch die großen, weisen, ganz verinnerlichten, heiligmäßigen Lehrer sterben ja eines Tages. Seine Schüler, seine Anhänger rings aus dem ganzen Land waren gekommen, um Abschied zu nehmen. Sie standen stumm betend um sein Bett und sahen, wie das Gesicht des Rabbi Hillel heller und heller, strahlend wie ein Licht wurde, sein Atem wurde klein und immer kleiner, aber von innen her leuchtete der Rabbi, dass das Zimmer strahlte und gleißte und geradezu funkelte.

Auf einmal schlug der Rabbi die Augen auf und begann zu sprechen, nicht laut, aber ganz und gar verständlich. Er sagte: “Es ist alles ganz anders, das darf ich euch sagen. Ich habe gehört, was Gott in der strengen Prüfung fragt. ’Wer warst du?’, fragt er. ’Wer hast du dich bemüht zu sein?’ Und wenn die Geprüften anheben, ihre guten Vorsätze und ihre Absichten und ihre Mühe darzulegen, besser zu werden, besser als sie selber, dann sagt der Vater von uns allen: ’Nein, du musstest nicht Abraham sein, du musstest nicht Moses sein, du musstest kein Heiliger sein, kein anderer, sondern: Warst du der Rabbi Hillel, bist du der gewesen, der Rabbi Hillel, du?’”

So geht die Frage in der anderen, in der wirklichen Welt. Und als er das seinen Schülern gesagt hatte, löschte das Licht des Rabbi Hillel ganz still in  einem wunderbaren Schein aus.
So geht die Legende der Chassidim. Und die ist nicht schlau zu kommentieren, nicht zu be(wer)weisen. Sie trennt das Wichtige vom Unwichtigen. Sie liefert kein Rezept – sie verlangt mir etwas ab. Ich muss mir klar werden über etwas, ich muss wohl damit anfangen. Und es gibt jetzt auch gar kein Apropos. Die Moral von der Geschicht ist die Geschicht.

Vor ein paar Wochen kam ich mit jemandem ins Gespräch, der ganz genau wusste, dass er zu Weihnachten nicht zu Hause sein würde, nicht unter einem eigenen Weihnachtsbaum zu sitzen käme, nicht die liebevolle Wärme eines Familienweihnachtsfestes erleben würde und auch nicht die anstrengende Freundlichkeit für einen Abend, die das missverstandene Fest, das die “Familien zusammenführt” (in Anführungszeichen), ja auch sein kann.

Das war eine Krankenschwester, und die nötigte durch dieses Bewusstsein einem nun nicht etwa ab, das Lied “Hoch klingt das Lied von der braven Frau” respektive “vom braven Mann” anzustimmen, die freute sich, in diesen Tagen ihrer Arbeit nachgehen zu können, mit Nachtdienst, mit Tagdienst. Aber sie freute sich nicht angestrengt oder wichtigtuerisch. Sie wusste, dass sie etwas Sinnvolles tun würde, und darum hatte sie ja wohl auch den Beruf ergriffen. Aber es war für sie ganz selbstverständlich. Sie erzählte von den Ärzten, die, wenn sie Frau und gar Kinder hatten, freilich manchmal etwas betroffen waren, wenn sie Dienst taten, aber andererseits wussten auch sie, dass die Notwendigkeit, die Erkenntnis der Notwendigkeit, das ganz besondere Klima auch in einem Krankenhaus zu Weihnachten den Sinn dessen, was man zu tun hatte, noch sinnvoller werden ließ – nicht größer –, ohne Sentimentalität, sondern einfach wissend: Wer jetzt von den Patienten nicht heimgekonnt hatte, der brauchte wirklich Hilfe, wer jetzt Schmerzen hatte, der hatte sie womöglich doppelt, über wen jetzt die Trauer herfiel, der musste aufgefangen werden von einem Arzt, von einer Schwester, von einer Pflegerin. Und die Widmung, die der Patient erfahren konnte, war manchmal gelassener, war manchmal tapferer, geduldiger – bei den Ärzten und bei den Schwestern.

Und es sei auch nicht selten, so die Krankenschwester, dass neben dem Jammer und der begreiflichen Traurigkeit von Kranken gerade von diesen eine große Kraft ausgehe. Natürlich sei der Geruch eines Tannenzweiges eine zärtliche Verbindung zurück in das, was an der Kindheit womöglich gut und beglückend gewesen war. Aber auf einmal Weihnachten, dieses unvernünftige, ganz aus der reinen Verstandeswelt ausbrechende Fest, so einfach, so ganz auf sich selbst gestellt zu erleben, das könne auch, wenn alle Sentimentalität notwendigerweise ganz von selbst abfiele – Sentimentalität, dieses Gefühl der Mörder, Sentimentalität, dieser Ersatz für wirkliches Gefühl, für wirkliche Empfindung – das könne auf einmal etwas Neues in einem entstehen lassen: dass dieses Weihnachten ja bloß der Beginn war, bloß der Anfang, aus dem durch lange Zeit hindurch etwas zu entstehen hatte, das allerdings zu Unrecht bald in die Hände der Exegeten und der Dogmatiker, zu Unrecht in die Hälse der Ganz-genau-Wisser und Gehorsamforderer, zu Unrecht in die Pfoten der Händler und auch der Verfechter des offenen oder verkaufsfreien Samstags zu fallen hatte.

Ja, das habe sie von Patienten erlebt, sagte die Krankenschwester, von Patienten, die auf einmal die Ruhe hatten, die aufgezwungene, aber auch die plötzlich existierende, daseiende Pause und Ruhe, über mehr als die Heilung der akuten Krankheit nachzudenken – und die in diesem Weihnachten, und die in dieser Gemeinschaft mit den Pflegenden, womöglich mit Heilungsversuchen Beschäftigten, eine neue Dimension erlebten.

Ist das nicht so? Weihnachten verlangt nicht ein Heiliger zu werden. Aber da gibt´s die Chance, einen Gedanken dahin zu schicken, wie man der Rabbi Hillel wird, nämlich man selbst.

“Wir wissen´s ja oft nicht, dass wir im Schweren sind bis über die Knie, bis an die Brust, bis ans Kinn.”, sagt Rainer Maria Rilke. “Aber sind wir denn im Leichten froh? Sind wir nicht fast verlegen im Leichten? Unser Herz ist tief. Aber wenn wir nicht hineingedrückt werden, gehen wir nie bis auf den Grund.

Und doch: Man muss auf dem Grund gewesen sein, darum handelt sich´s.”

Wer in seinem Sinn etwas tun will: Spenden nimmt das VinziRast-CortiHaus entgegen, Notschlafstelle und Wohnhaus für Obdachlose:

http://www.vinzirast.at/

Warst Du Axel Corti? (Trailer):   http://youtu.be/vY3oZUetHzw

Bildrechte: ORF

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