Es gibt einen berühmt gewordenen Brief, der 1897 in einer Zeitungsredaktion eintraf:
„Lieber Redakteur: Ich bin 8 Jahre alt.
Einige meiner kleinen Freunde sagen, dass es keinen Weihnachtsmann gibt.
Papa sagt: ‚Wenn du es in der Sun liest, ist es so.‘
Bitte sagen Sie mir die Wahrheit: Gibt es einen Weihnachtsmann?
Virginia O’Hanlon.
115 West Ninety-fifth Street.”
Die Antwort des Redakteurs ist legendär geworden und stand dann jahrzehntelang jedes Jahr zu Weihnachten auf der Titelseite der Zeitung:
"Virginia, deine kleinen Freunde haben unrecht. Sie sind beeinflusst von der Skepsis eines skeptischen Zeitalters. Sie glauben an nichts, das sie nicht sehen. Sie glauben, dass nichts sein kann, was ihr kleiner Verstand nicht fassen kann. Der Verstand, Virginia, sei er nun von Erwachsenen oder Kindern, ist immer klein. In diesem unserem großen Universum ist der Mensch vom Intellekt her ein bloßes Insekt, eine Ameise, verglichen mit der grenzenlosen Welt über ihm, gemessen an der Intelligenz, die zum Begreifen der Gesamtheit von Wahrheit und Wissen fähig ist.
Ja, Virginia, es gibt einen Weihnachtsmann. Er existiert so zweifellos wie Liebe und Großzügigkeit und Zuneigung bestehen, und du weißt, dass sie reichlich vorhanden sind und deinem Leben seine höchste Schönheit und Freude geben. O weh! Wie öde wäre die Welt, wenn es keinen Weihnachtsmann gäbe. Sie wäre so öde, als wenn es dort keine Virginias gäbe. Es gäbe dann keinen kindlichen Glauben, keine Poesie, keine Romantik, die diese Existenz erträglich machen. Wir hätten keine Freude außer durch die Sinne und den Anblick. Das ewige Licht, mit dem die Kindheit die Welt erfüllt, wäre ausgelöscht.
Nicht an den Weihnachtsmann glauben! Du könntest ebenso gut nicht an Elfen glauben! Du könntest deinen Papa veranlassen, Menschen anzustellen, die am Weihnachtsabend auf alle Kamine aufpassen, um den Weihnachtsmann zu fangen; aber selbst wenn sie den Weihnachtsmann nicht herunterkommen sähen, was würde das beweisen? Niemand sieht den Weihnachtsmann, aber das ist kein Zeichen dafür, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt. Die wirklichsten Dinge in der Welt sind jene, die weder Kinder noch Erwachsene sehen können. Sahst du jemals Elfen auf dem Rasen tanzen? Selbstverständlich nicht, aber das ist kein Beweis dafür, dass sie nicht dort sind. Niemand kann die ungesehenen und unsichtbaren Wunder der Welt begreifen oder sie sich vorstellen.
Du kannst die Babyrassel auseinanderreißen und nachsehen, was darin die Geräusche erzeugt; aber die unsichtbare Welt ist von einem Schleier bedeckt, den nicht der stärkste Mann, noch nicht einmal die gemeinsame Stärke aller stärksten Männer aller Zeiten, auseinanderreißen könnte. Nur Glaube, Phantasie, Poesie, Liebe, Romantik können diesen Vorhang beiseiteschieben und die übernatürliche Schönheit und den Glanz dahinter betrachten und beschreiben. Ist das alles wahr? Ach, Virginia, in der ganzen Welt ist nichts sonst wahrer und beständiger.
Kein Weihnachtsmann! Gott sei Dank! lebt er, und er lebt auf ewig. Noch in tausend Jahren, Virginia, nein, noch in zehnmal zehntausend Jahren wird er fortfahren, das Herz der Kindheit zu erfreuen."
Und?
Zuerst solltest du nicht wirklich glauben, was in einer Zeitung steht, und schon gar nicht, was die „Sun” schreibt, auch wenn das damals noch eine andere Zeitung war. Aber es geht um mehr:
Ich war ein paarmal in Jerusalem. In der Kirche an dem Ort, wo Jesus begraben worden sein soll, prügeln sich verschiedene christliche Mönche jedes Jahr darum, wer welche Ecke fegen darf.
Es verwundert dann nicht mehr, dass wir Weihnachten an ganz verschiedenen Tagen begehen. Um diese Zeit hat man schon vor viel mehr als zweitausend Jahren die Wintersonnenwende gefeiert, und zufällig feiern die, bei denen die ganze Geschichte sich zugetragen hat, ihr Chanukka auch in dieser Zeit.
Ich war in Bethlehem, und in Nazareth. Sagen wir so: was uns vom Evangelisten Lukas und den anderen erzählt wird, ist dort nicht mehr ein soo großes Thema. Die haben andere Sorgen.
In unserer Welt werden zum Geburtstag von Jesus Geschenke gebracht – vom Nikolaus, von drei seltsamen Königen aus dem Morgenland, von einer freundlichen Hexe, vom Weihnachtsmann und vom Christkind, je nachdem, wo jemand lebt.
Der Weihnachtsmann ist ein alter Rauschebart, der mit einem fröhlich beschickerten Rentier durch Schornsteine flitzt und ein Produkt eines Limonaden-Herstellers ist.
Das Christkind stellen wir uns vor als eine Mischung aus Kleiner Prinz, blondes (!) Grießbrei-Cover-Motiv und Barock-Engerl ohne Flügel.
Gefeiert wird der Tag der Geburt von Gottes Sohn als Mensch, der gekommen ist, um uns zu erlösen.
Die allgemeine Verwirrung um das Datum, die verschiedenen Bräuche und letztlich die Schwierigkeit, das alles zu erklären, haben dazu geführt, dass aus „Weihnachten“ etwas geworden ist, das nicht mehr viel mit dem Ursprung zu tun hat. Für Gläubige ist sowieso Ostern das wichtigere Ereignis.
In Europa machen wir uns gehörig lustig über unsere Freunde in den USA, die zu Thanksgiving Elektroschrott-Läden auf der Suche nach Schnäppchen stürmen, obwohl wir aus „Weihnachten“ etwas nicht so immens anderes gemacht haben.
Was bleibt, ist, dass man sich mit seiner Familie zusammensetzt, miteinander festlich isst, Geschenke austauscht und von einem Fest der Liebe spricht.
Weißt du, das ist einer der seltenen Fälle, wo etwas so lange verändert wurde, bis der Kern wieder zum Vorschein kam. Als hätte man aus einem wunderbaren alten Bild eine Schreibunterlage gemacht, das ganze übermalt, am Dachboden vergessen und plötzlich kramt das jemand hervor und das Bild ist wieder da.
Über die historischen Hintergründe mach’ dir später einmal Gedanken, wenn du willst. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass das Bild ein Bild ist und kein Foto. Bilder sind jedoch oft wertvoller.
Und ja, an einem dieser Advent-Samstage in einer Einkaufsstraße ist es schwer, diese „ruhigste Zeit des Jahres“ als solche zu genießen. Und ja, am Heiligen Abend geht es manchen gar nicht gut, wenn das mit „Familie“ und „Liebe“ in ihrem Leben nicht so hinhaut, oder aus dem großen Wunsch ein kleines Trostpflaster geworden ist.
Weihnachten entzieht sich der Vernunft, und das Christkind kommt aus dem Amazon-Versandlager, das stimmt.
Aber wenn du kannst, mach’ einen kleinen Spaziergang am Heiligen Abend, wenn es wirklich ruhig geworden ist. Schau’ auf die beleuchteten Fenster, hinter denen sich Menschen umarmen, die das sonst nicht mehr oft tun. Ich hatte einen Onkel, der zu dieser Zeit immer einen Bahnhof aufsuchte, um dort zu sein, wo niemand zu Hause ist. Manchen tut Weihnachten weh.
Du hast ein Zuhause. An einem solchen Abend kann dir bewusst werden, was „Familie“ ist, und dass wir dann auch an jene denken, die nicht sichtbar da sein können, gehört dazu. Geschenke sind der hilflose Versuch, unsere Liebe sichtbar zu machen, wie Zärtlichkeit eine verblasste Erinnerung und Vorahnung an unsere Ausdrucksmöglichkeit im Paradies ist. Wenn du später einmal zurückblicken wirst, wirst du – zum Glück und leider – vieles vergessen haben. Es gibt aber diese Abende, von denen jeder einzelne einer der schönsten Abende deines Lebens war. Der in ein paar Tagen wird einer davon sein.
Ich habe dir einmal geschrieben, dass man sich der Wahrheit stellen sollte: schwindelfrei und schwerelos. Am Heiligen Abend wird manchmal ein Teil jener Wahrheit sichtbar, die nicht beweisbar ist, weil wir so viel wissen, dass wir nur mehr wenig glauben können.
Aber wenn wir wirklich glauben so viel zu wissen, dass nur mehr da ist, was wir sehen, dann sind wir arm geworden. Zu Weihnachten werden wir reich, und es geht nicht um Geschenke. Oder doch, um eines schon:
„In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen.”
Lukas. Lies’ das einmal. Es gibt Zauberhaftes.
Und dir und allen, die irgendwo ein wenig Frieden brauchen: frohe Weihnacht!