Die vergessene Revolution

1871 lebte die Pariser Commune einen kurzen Traum

Es ist einer der schönsten Spaziergänge, die Paris bietet, und Paris bietet schönere Spaziergänge als jede andere Stadt der Erde: der Friedhof Père Lachaise im Osten der Stadt ist ein Mekka der Romantiker. In einem riesigen, hügeligen Park gibt es verwunschene Alleen, monumentale Grabdenkmäler und Familientempel, abgeschiedene Orte der Erinnerung und Stätten der letzten Ruhe für einige der Größten: Oscar Wilde, Simone Signoret, Gioacchino Rossini, Marcel Proust, Édith Piaf, Jim Morrison, Honoré de Balzac, Beaumarchais, Gilbert Bécaud, Sarah Bernhardt, Maria Callas, Frédéric Chopin, Max Ernst, Yves Montand – das ist bloß ein Auszug aus einer Liste von Berühmtheiten, die dort begraben sind.

Im Süden des Friedhofs liegen stets Blumen und Kränze an der „Mauer der Commune“: hier endete vor etwas mehr als 140 Jahren eines der blutigsten Kapitel der Geschichte von Paris und Frankreich.

Wenn „Die Französische Revolution“ Erwähnung findet, denken die meisten wahrscheinlich an den Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789, an die Hinrichtung Ludwigs XVI. und Marie Antoinettes, an Robespierre und Danton. An „Die Französische Revolution“ eben.  Manche erinnern sich auch an „Les Misérables“, aber das war die Revolution von 1830. Paris war ja oft umkämpft, schon „Die“ Revolution bestand aus mehreren, einander folgenden, und Revolutionen gab es auch noch 1848, 1968 – und 1871.

In jenem Frühling 1871 begann das Drama, das heute nicht mehr allzu präsent ist, obwohl es das sein sollte. Nur eine Zahl mag das verdeutlichen: während des Großen Terrors unter Robespierre wurden in Paris an die 2.500 Personen hingerichtet – in 13 blutigen Monaten. Um das zu beenden, wurde der Militärputsch inszeniert, der Napoleon auf die Bühne hievte.

Es starben innerhalb einer Woche mindestens 30.000 Pariserinnen und Pariser, umgebracht von Truppen der eigenen Regierung.

Wie konnte es dazu kommen? 1870 hatte sich der Spekulant und Spieler Napoleon III. von Bismarck in eine Falle locken lassen, die zum Krieg zwischen Preußen und dem französischen Kaiserreich führte. Die französischen Truppen waren mit Karten ins Feld gezogen, die ausschließlich die Gebiete jenseits des Rheins darstellten. Kampfhandlungen auf französischem Boden wurden für unmöglich gehalten. Ungefähr so waren die Ausrüstung und Organisiertheit der französischen Armee. In Sedan war nach einem kurzen, heftigen Krieg alles vorbei: Napoleon ergab sich mit seinen verbliebenen Truppen in Gefangenschaft, es war alles verloren. An einem eisig kalten Jännertag 1871 wurde Wilhelm im Spiegelsaal  zu Versailles zum deutschen Kaiser gekrönt. Deutschland war zum Zweiten Reich vereinigt. Frankreich war am Boden zerstört, die Reparationszahlungen waren höher als jene, die Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg zu leisten hatte.   Aber Paris war nicht besetzt.

Die konservative Regierung hatte Paris auf der Flucht zugunsten von Bordeaux verlassen, und als sie nach dem Friedensschluss zurückkehrte, bezog sie ihr Quartier in Versailles, nicht im republikanisch gesinnten Paris. Dort bildete sich Widerstand: die Nationalgarde stand auf Seiten der Republikaner, Gemeinderatswahlen brachten einen Sieg linksbürgerlicher, kommunistischer und sozialistischer Abgeordneter. Weg frei für den Klassenkampf.

In den wenigen Wochen, bevor die Versailler Truppen losschlugen, experimentierte Paris mit einer neuen Zeit: die erste Massenbewegung der Frauenemanzipation wurde geboren, Löhne wurden angeglichen, Selbstverwaltung wurde erfolgreich getestet, die Trennung von Legislative und Exekutive sowie von Kirche und Staat wurde verankert, und an manchen Tagen dieses warmen Frühlings schien ein irdisches Paradies nicht mehr fern. Die Pariser Commune hatte Erfolge zu verzeichnen, die unleugbar waren. Unleugbar war jedoch auch, dass deren Zeit noch nicht gekommen war.

Nach Sebastian Haffner ging es dabei „zum ersten Mal um Dinge, um die heute in aller Welt gerungen wird: Demokratie oder Diktatur, Rätesystem oder Parlamentarismus, Sozialismus oder Wohlfahrtskapitalismus, Säkularisierung, Volksbewaffnung, sogar Frauenemanzipation – alles das stand in diesen Tagen plötzlich auf der Tagesordnung.“ Aus diesen Gründen wird die Zeit der Pariser Kommune verschiedentlich auch als ein Manifestationspunkt der Moderne  bezeichnet.

Um es kurz zu machen: am 2. April begann die Belagerung und Aushungerung der Stadt, am 21. Mai der Sturm ins Stadtgebiet, der bis 28. dauerte, das war die „Blutige Woche“, an deren Ende die letzten 147 Aufständischen an jener Mauer im Friedhof Père Lachaise füsiliert wurden. Es war auch seitens der Commune zu Gräueltaten gekommen, wie der Erschießung von Geiseln, darunter dem Kardinal von Paris. Was aber seitens der Regierungstruppen angerichtet wurde, kann man nur als eine Orgie der Brutalität und der Rachsucht bezeichnen, als ein wahres Massaker. Adolphe Thiers ist als Schlächter in die Geschichte eingegangen, und doch sind immer noch Straßen in ganz Frankreich nach ihm benannt. Er liegt übrigens auch auf dem Père Lachaise...

Kinder und Frauen wurden ebenso niedergemetzelt wie Krüppel und Alte. Den vielleicht dramatischsten Bericht in deutscher Sprache hat Sebastian Haffner veröffentlicht, in seinen „Historischen Variationen“. Unvergesslich bleibt die Beschreibung, wie Charles Delescluze, eines der Häupter der Commune, am letzten Tag der Barrikaden, an jenem 28. Mai, im Frack und mit allen Orden, die der 60-jährige Journalist und Abgeordnete verliehen bekommen hatte, eine bereits aufgegebene Barrikade an der Rue d'Angoulême bestieg, allein. Die Kugel, die für ihn gegossen war, erreichte ihn, als er die höchste Ebene der Barrikade bestiegen hatte, während im Westen die Sonne unterging.

Dann begann das Wüten der Standgerichte…

Karl Marx hat über die Commune  geschrieben, wie auch neben so vielen anderen Brecht und Rimbaud, und die „Schmetterlinge“ haben daraus ein zentrales Kapitel ihrer „Proletenpassion“ gemacht. Zu Schlimmes ist mit dem Begriff geschehen, der dort seinen Ausgang nahm, und zu unerträglich und unaussprechbar   ist wohl immer noch der Gedanke, dass ein Staat zum Mittel des Massenmordes greift, um sein Gesellschaftsmodell zu bewahren.

Die Commune ist heute im öffentlichen Bewusstsein außerhalb Frankreichs weitgehend vergessen. Diese Tage werden wohl in kaum einer Zeitung erwähnt werden, Reiseführer widmen ihnen einen Nebensatz.   Aber Du, Wanderer, der Du nach Paris kommst, besuche Père Lachaise. Verneige Dich vor Edith Piaf und stoße an mit anderen bei Jim Morrison. Aber sage auch, Du habest sie liegen geseh’n, an der Mur des Féderés, der Mauer der Commune. Wo ein Traum zu Ende ging.

 

2011

 

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