Von Städten und Büchern

(Eine Liebeserklärung ans Lesen und an mein Buch der Bücher)

(Eine Liebeserklärung ans Lesen und an mein Buch der Bücher)

Natürlich werde ich oft gefragt, wo es für mich am schönsten ist. „Jemand, der schon so viel gesehen hat, der ständig reist – ?“

Ich muss dann immer ein wenig enttäuschen. Wo es für mich am schönsten ist, das klingt beinahe abgedroschen, in einer Zeit, in der die letzten Winkel der Erde vor Reisenden mit Lonely Planet-Führern nicht mehr sicher sind. Und ich suche keine Geheimtipps, ich habe meine Orte des Glücks gefunden: Venedig, Rom, Paris. Ich glaube auch, dass es dort am schönsten ist, wo die meisten hinwollen. Und jenes Dreigestirn an Städten ist eben das, ohne dessen Kenntnis, wie flüchtig sie auch sein mag, kein Reisen von Suchenden auch nur jene annähernde Erfüllung finden kann, die überhaupt möglich ist.

So atemberaubt ich in den Hochgebirgen Südamerikas auch gewesen bin, so beeindruckt ich von Neuseeland war oder von der grenzenlosen Mitte Australiens, so sehr mich jedes Wiedersehen mit dem Meer bezaubert und jedes mit Florenz oder dem Golf von Neapel oder den Fjorden des Nordens oder der staubigen Melancholie Arabiens, so sehr ich beeindruckt bin von dem, was ich von Asien erlebt habe – wenn ich Heimweh nach meinen Orten des Glücks habe, dann ist das ein Heimweh in die Lagune, an den Tiber und an die Seine.

Letztlich ist es wie mit Büchern: dem Richtigen das passende Buch im rechten Moment ans Herz zu legen – wie selten gelingt das. Es gibt Reisen, die jeder für sich zurücklegen muss – auch und gerade zu Büchern.

Ich habe sehr früh zu lesen begonnen, lange vor der Schule; in meiner Schulzeit habe ich die beiden Leihbibliotheken, die sich in meiner Döblinger Nähe befanden, praktisch leergelesen. Bücher waren mir bald, was sie auch jedem Lesenden sind: Freunde, Refugien, Trost. Vieles habe ich zu früh gelesen, und die größten Entdeckungen waren wohl solche, die ich nicht annähernd verstehen konnte, aber fühlen, fühlen konnte ich sie. Ich werde nie wieder Russen lesen können, aber zwischen 14 und 17 habe ich Dostojewskijs Gesamtwerk gelesen, und der hat viel geschrieben. Es war Lesen wie im Rausch, Begegnungen mit Menschen, die gedacht, gelitten und geschrieben hatten, wie ich noch kein Denken und kein Leiden und kein Lesen erfahren hatte, und vor allem anfangs keine Liebe. Einmal bin ich mit einem Reclam-Heftchen durch die Gassen des Lichtenthales gelaufen, lesend im Gehen, es wurde finster, und als die Straßenlampen nicht mehr genügten, zog ich mich in eine Telefonzelle zurück, um dort atemlos weiterlesen zu können. Ach, Zarathustra (und ach, Telefonzellen)…

Aber es musste nicht immer Kaviar sein: das gleichnamige Buch habe ich ebenso verschlungen wie ich noch als Kind alle Bände von Karl Mey gefressen hatte (und der schrieb noch mehr als good old Fjodor). Ich habe Jerry Cotton unter der Bettdecke gelesen und alle Liebesromane meiner Großmutter (als die Leihbibliotheken mir nichts mehr bieten konnten). Nach den ersten Zeilen von Hemingway und Fitzgerald wusste ich, dass ich erst wieder zur Ruhe kommen würde, wenn ich alles von ihnen und über sie gelesen hatte.

Das war dann irgendwann einmal so ziemlich meine größte Sorge: was, wenn ich einmal nichts mehr fände, was mich in jenes unsagbare Glücksgefühl vorstoßen lassen würde, das jeder kennt, der einmal ein Buch begonnen hat, auf das er sich freut, solange es noch Seiten gibt zum Umblättern.

Und das war vielleicht der größte Trost, den ich je erfahren habe: es hört nie auf. Man liest Bücher zum falschen Zeitpunkt, oder man liest und stellt fest: Mist. Man kann auch selbst eine Zeitlang für Bücher verdorben sein, weil man verliebt ist oder abgelenkt, weil man zu unruhig ist oder zu schwach oder zu stark: es kommt der Zeitpunkt, an dem man wieder jene Treue von Freunden braucht, die le Carrés Helden, die den Verrat so lieben, nicht finden, die aber jeder findet, wenn er das Buch in die Hand nimmt, das einmal geschrieben wurde, um diese nächsten Stunden und Nächte oder Straßenbahnfahrten zu etwas zu machen, das alles wert war. Dann, wenn Bücher zu Freunden werden.

Selten habe ich systematisch gelesen, wenn das nicht berufsbedingt nötig war: es gab die Freunde zum Lachen und jene zum Weinen, die, die Dich nicht loslassen mit ihrer Spannung, und jene, die Welten in Dir entstehen lassen, wo vorher keine waren.

Am Rande, aber sehr nur dort, hatte es früher einmal zu tun mit dem Ehrgeiz, ein wenig Bildung zu erlangen. Nach all dem Versagen aller Lehrer, die es nicht geschafft haben, mir einen einzigen Autor oder einzige Autorin nicht für alle Ewigkeiten zu entfremden, wollte ich irgendwann wohl auch wissen, warum es die Unsterblichen gibt, die gar nicht so unsterblich sind, wie ich nun merke, da ich alt werde und die Klassiker ins Vergessenwerden hinabsinken, so schnell, wie ich das nie für möglich gehalten hätte.

So wenig angenehm mir Herr Goethe bis heute erscheint, so wenig immer noch von Shakespeare bekannt ist, so hysterisch mich die Romantiker oft nerven, ich musste anerkennen, dass manchmal ein Satz nach Wüsteneien mühsamen Gebrabbels einen plötzlich innehalten lässt, und Du weißt etwas, das Du immer schon gewusst hattest, aber es war Dir nicht bewusst, bis Du diesen Satz gefunden hast, der ihn in Dir zum Leben erweckt und etwas vom Leben verständlich macht, das eine Antwort ist auf ein nie gestellte Frage, ohne die Du nun viel ärmer wärst.

Ich musste auch zur Kenntnis nehmen, dass kein Leben lang genug sein würde, um annähernd jene Belesenheit zu erreichen, die vor allem ein Bildungsbürgertum sich vor hundert Jahren angeeignet hatte, die es nie wieder geben wird. Wären diese Menschen nicht ausgelöscht worden, um wie viel reicher wäre bloß das Leben aller, die heute noch lesen könnten, was diese noch geschrieben hätten. Wenn das Schrecklichste, das Menschen Menschen angetan haben, nur nach sich gezogen hätte, dass keine Kulturgeschichte Roms mehr geschrieben werden konnte, weil Egon Friedell sich vor den Schärgen der SA in die Gentzgasse fallen lassen musste, dann wäre das allein bereits ein Verbrechen an der Menschheit gewesen. Und natürlich geht es nicht um den Geist, der damals vernichtet wurde, sondern um jedes einzelne Leben und die Ermöglichung des Undenkbaren, aber der Geist, der fehlt auch, auch und gerade heute und hier.

Aber ich habe auch gelernt, dass die Menschen, die nun jung sind, nicht weniger lernen, wenn sie weniger Bücher lesen. Die Vielzahl der Quellen verändert so vieles, auch das Lesen. Nicht wenige lesen heute durch das Internet wohl mehr, als sie ohne es gelesen hätten. Und dass Eminem und ein paar andere wirklich große Worte finden – Shakespeare oder wer immer er war hätte das als erster zugegeben. Doch Bücher sind und bleiben etwas besonderes. Noch heute, da ich keinen Umzug mehr wagen will, um nicht noch einmal solche Tonnen an Papier bewegen und ordnen zu müssen, kann ich an keinem Antiquariat vorbeigehen, und an kaum einer Buchhandlung. Immer noch zittere ich oft ein bisschen, wenn das Päckchen von Amazon gekommen ist oder das Packerl unterm Weihnachtsbaum drankommt, oder jenes deutsche Nachrichtenmagazin sich wieder einmal eine jener Reportagen leistet, für die Frau Scherer und so viele andere berühmt geworden sind, und deretwegen ich zu meiner eigenen Hochzeit zu spät gekommen bin, ich, der ewig Überpünktliche. Und jedes Beginnen eines neuen Buches ist das Inangriffnehmen eines großen, eines rätselhaften Abenteuers, an dessen Ende Du ein anderer geworden sein wirst und erst recht die Welt um Dich herum.

Wer ist die Schönste im ganzen Land? Solche Zeilen begleiten uns alle ein Leben lang, lassen Bilder entstehen und Erinnerungen wach werden. Aber ein Lieblingsbuch, das kann es, hat man mehr als eines gelesen, wohl nicht geben. Es gibt jene, zumindest für mich, die alle diese Freunde gemeinsam sein können, mit denen man lacht, die man nicht loslassen will, die einen dorthin führen, wo man noch nie gewesen ist, und die man niedersinken lässt, weil man durch die Tränen nicht mehr weiterlesen kann. Es gibt die, bei deren Lektüre man wünscht, dass sie nie zu Ende gehen, und es gibt jene, die man fiebrig in einer Nacht liest, obwohl der nächste Morgen frühe Pflichten bringt. Manche kann man nur einmal lesen, manche immer wieder, im Abstand von Jahren und Jahrzehnten, und manche werden zu einer Geliebten, die immer wieder überraschen kann, und manche zu einer, deren Vertrautheit uns glücklich und geborgen macht und sicher, gut durch diese Welt zu kommen.

Das ist so anders als die Liebe, die wir meinen: die zu Städten oder Büchern, die teilen wir gern. Gibt es sehr viel Schöneres als der Dank eines Freundes, den das rechte Buch zur passenden Zeit durch eine Zeit des Schweren gebracht hat oder in eine Zeit der Heiterkeit und des Glücks? Als der aufrichtige Dank von Menschen, die eine Stadt mit neuen Augen sehen können?

Bücher und Städte, jedenfalls die besten unter ihnen, und es liegt an uns, unsere Besten zu finden, lassen uns entdecken, dass wir Pilger sind, wie Bergengruen einmal über Rom sagt. Dass wir wenigstens jetzt, wenigstens diesmal, nicht enttäuscht werden, trotz aller hochfahrenden Erwartungen. Und dass uns die Heimkehr verheißen ist.

So, Mark Helprin, das wollte ich Dir sagen. Und danke für “Ein Soldat aus dem Großen Krieg”, again and again and again.


 

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