A Dream Come True

„Was hat Sie eigentlich nach Casablanca geführt?“ “Die heißen Quellen.“  “Aber es gibt hier keine heißen Quellen…“ “Ich weiß. Es war ein Missverständnis.“ Humphrey Bogart als “Rick“ in Casablanca

Sie sitzen und sehen der Erde beim Sich-Drehen zu. Und träumen. Von Casablanca bis Muscat sitzen die stolzen Männer Arabiens vor oder in ihren Läden und Büros und warten und verwalten und träumen, plaudern, trinken Tee oder Kaffee, und sitzen. Und denken es wäre Arbeit. 

Ist es ein schöner Sonntag und ist etwas Geld da, kennen sie kein größeres kleines Glück als mit der Familie in eine Oase zu fahren und dort ein Picknick zu genießen. Dort sitzen sie dann, stundenlang, und trinken Tee, knabbern Kekse und träumen. Das sind die friedlichsten Kinder Gottes.

Nahi wollte nicht so leben. Nahi ist Berber, aus dem Süden Marokkos. Er war auffallend gut in der Schule, wissbegierig und aufgeweckt. Träumen, das konnte er auch. Sein Traum war es, Reiseführer zu werden. Mit Menschen aus allen Teilen der Erde zu arbeiten. Zu reisen. Nahi hatte Glück, nur vier Geschwister, eine verständnisvolle Familie und einen Onkel, der in Frankreich genug Geld verdiente, um die Familie zu unterstützen. Nach der Schule konnte Nahi neben dem Französischen bereits ein paar Brocken Deutsch, Satzfetzen, die er von Touristen erbeutet hatte. In seinem Schulbuch hatte er ein Bild aus der Schweiz gesehen, eine Alpenlandschaft mit Bergen und Seen und viel Schnee. Ziemlich genau so stellte sich Nahi, der aus der Wüste bei Agadir stammt, das Paradies vor. Und dort, in der Schweiz, so stand es in seinem Schulbuch, wird deutsch gesprochen. Nun bekam er, vor mehr als dreißig Jahren, die Chance seines Lebens, und er war entschlossen sie zu nutzen.

Mit einem Darlehen des Onkels, einem kostspieligen Visum und seinem Schulbuch flog Nahi in die Schweiz, wo er drei Monate lang Deutsch lernen sollte. 

In Appenzell angekommen, kannte sein Entsetzen keine Grenzen: die Einheimischen sprachen, sie sprachen auch zu ihm, aber sie sprachen nicht deutsch. “Schwyzerdütsch“, es fällt ihm immer noch mehr als schwer das Wort auszusprechen, kopfschüttelnd. Er konnte es nicht fassen. Seine rudimentären Sprachkenntnisse beließen ihn völlig außerstande auch nur in Ansätzen zu verstehen, was und worüber in seiner neuen kleinen Welt gesprochen wurde. Immer wieder kramte er in seinem winzigen Zimmer sein Buch mit dem schönen Bild hervor und überzeugte sich davon, dass dort stand, dass man in der Schweiz deutsch spricht. Es half nichts. Die Berge waren da, die Seen, auch Schnee, und jede Menge davon, alles stimmte. Bloß die Sprache nicht, der Grund seines Dortseins. 

Nahi erlitt mehrere Beschämungen der linguistischen Art, bis er aufhörte unter Menschen zu gehen. Im Supermarkt konnte er sprachlos kaufen was er zum Leben brauchte, dann saß er in seinem Zimmerchen, blätterte in seinem Buch und träumte. Drei Monate lang. 

Wahrscheinlich begann er damals und dort zu stottern. “Je ne s-sais pas.“, er weiß es nicht. Wie hätte er, ohne zu sprechen, merken sollen, dass er zu stottern begann?

Wir reden miteinander Französisch, sein Deutsch ist uns beiden zu schwer.

Als Nahi heimkehrte, erwartete die Familie ihn wie einen Helden aus gewonnenen Kriegen. Erst langsam stellte sich heraus, dass er sich verändert hatte, bis auf sein Deutsch.

Zu gestehen, keine sprachliches Fortschritte gemacht zu haben, brachte Nahi einfach nicht über sich. Und er hatte noch einmal Glück: bei der Fremdenführer-Prüfung war der Zuständige für seine Deutschkenntnisse – taub. So wurde Nahi doch noch Guide, aber sein Traum war zu einem Alptraum geworden.

Schnell wurde klar, dass er seinen Aufgaben sprachlich nicht gewachsen war. Französischsprachige Guides gab es zur Genüge, und die deutschen Gäste konnten und wollten nicht verstehen, was ihnen da geboten wurde. Doch es gab keinen Weg zurück. Nahi erhielt nur noch Brosamen, Gruppen, für die sich wirklich niemand anderer mehr fand, Lückenbüßer-Tätigkeiten. Er, der ein fröhlicher, extrovertierter junger Mann gewesen war, wurde zu einem tragischen Clown. Um seine mangelnden Sprachkenntnisse und das Stottern zu übertünchen, bot er den Touristen den einfältigen Kasper, eine Methode, mit der er wenigstens ab und zu ankam. In Wirklichkeit wurde er melancholisch, brach den Kontakt zu seiner Familie fast ganz ab und wurde zu einem grüblerischen Einzelgänger. Das bißchen Arbeit, das man ihm zukommen ließ, nährte ihn mehr schlecht als recht, eine Familie zu gründen und zu erhalten war außerhalb jeder Denkmöglichkeit. So wurden die Jahrzehnte seitdem ein langes Tal der Einsamkeit, in dem er in seiner Rolle als stupider Kameltreiber auch noch seine Würde verlor.

Die vergangene Woche habe ich mit Nahi verbracht, es war Not am Mann. Inzwischen sind wir Freunde geworden, ich kenne seine absurde Lebensgeschichte (er meine auch), und Nahi genießt jede Gelegenheit mir helfen zu können. Ich halte für ihn die Vorträge, übersetze sein Gestotter ins Reine und verlange von den Gästen Respekt. Auch um ein anständiges Trinkgeld für ihn kümmere ich mich. Dafür liest er mir jeden Wunsch von den Augen ab, kümmert sich um meine Wäsche, sorgt dafür, dass ich praktisch nirgends Geld ausgeben kann, weil ich überall eingeladen werde, bekomme die schönsten Zimmer und Blumen und Obst von der Direktion.

Morgen trennen sich unsere Wege wieder, Nahi fährt nach Agadir, wo er mit zwei Kollegen eine kleine Wohnung hat. Es gibt nichts zu tun für ihn, vielleicht im April wieder.

Gestern hat er mir sein altes Schulbuch gezeigt, mit dem Bild aus der Schweiz und mit Augen, die blind waren vor Tränen. Das Bild ist wirklich schön.

 

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