Ultimo Viaggio – eine letzte Reise

Wohin ich noch nicht folgen konnte - etwas Besinnliches...

„Alexander, das ist das letzte Mal“, hatte sie gesagt. Auf meinen fragenden Blick hin erklärte sie mir, dass sie nur noch wenige Monate hatte. Das war zu Beginn des vorjährigen Frühlings. Vorige Woche ist sie aufgebrochen, für immer.

Männer reisen seltener allein, wenn sie älter werden. Frauen werden älter, und sie sind dann eben häufiger allein.Frau G war nicht wirklich alt geworden, nach heutigen Maßstäben. Sie war allerdings schon lange allein gewesen, „mehr als mein halbes Leben“ hatte sie einmal gesagt.Sie war in den vergangenen Jahren sieben- oder achtmal mit mir auf Reisen gewesen, das erste Mal gleich bis Neuseeland. Wir hatten einander sofort gemocht, glaube ich. Soviel ich weiß hat sie ihre Reisen dann – auch – danach ausgerichtet, wohin ich unterwegs war.

Ich kann nicht viele Menschen nahe an mich heranlassen, dafür reicht die Zeit eines Lebens auf Reisen nicht. Frau G war zurückhaltend, leise, unauffällig. Auf unserem Flug nach Christchurch in Neuseeland hatten wir ein paar Stunden Pause in einem luxuriösen Hotel in Singapur – mehr als willkommen während einer Anreise, die länger als einen Tag und eine Nacht dauert. Als ich alle Gäste mit ihren Zimmerschlüsseln ausgestattet hatte und zu guter Letzt in die Annehmlichkeit eines weichen Bettes schlüpfen wollte, stellte ich verblüfft fest, dass ich noch nicht allein war in der Lobby. Frau G stand da, ihr Koffer war schon in ihrem Zimmer, aber dorthin wollte sie noch keineswegs. „Gibt es hier nicht diese berühmte Bar?“ Kurz danach saßen wir in Raffles’ Long Bar. Das Ausruhen dauerte kürzer als vorgesehen.

Wir sind später noch öfters beisammengesessen, in Cafés und Bars dies- und jenseits von Meeren. Ein bisschen haben wir einander von unseren vergeblich Versuchen erzählt nicht allein zu leben, aber das stand nicht im Vordergrund. Wir haben geplaudert und oft und viel gelacht, einfach so, meist etwas im Verborgenen, das musste nicht jeder mitbekommen.

Ich habe irgendwann gewusst, dass es da eine Tochter gibt, die in Deutschland lebt, und ein paar Freunde in Wien, eine kleine Pension und eine Anwartschaft auf einen Platz in einem Altersheim. „Ich kann mir das nicht vorstellen, Alexander, ich lebe gerne allein, aber vor allem bin ich es so sehr gewohnt.“ Das sich-Einfügen in eine Gemeinschaft in einem Heim schien ihr wie eine Drohung, schon das Reisen in einer Gruppe fiel ihr anfänglich nicht leicht. „Irgendwann muss man eben Kompromisse schließen“, hatte sie einmal gesagt, „mit anderen zu reisen ist besser als gar nicht mehr – und es gibt ja wirklich den einen oder anderen Gewinn“, gefolgt von einem Augenzwinkern, dem man ein paar Jahrzehnte weniger abgenommen hätte. Es hatte einmal einen Mann gegeben, den es schon lange nicht gab, eine Stelle in einer Kanzlei als Sekretärin, Theaterbesuche, Spaziergänge in den Parks und im Umland Wiens, selten Fernsehen, ab und zu nicht zielführende Männerbekanntschaften („bis es mir einfach zu blöd und mühsam wurde“), und Bilder und Bücher.

Unser Kontakt hat sich auf die gemeinsamen Reisen beschränkt, in Wien sind wir einander nie begegnet. Es gab auch keine Geburtstags- oder Weihnachtsgrüße, das hatten wir einmal ausgesprochen. Dennoch, landeten wir in Paris oder Lima, dann war ich in meiner Rolle nicht mehr ganz allein, und sie, die Einzelreisende in einer der hinteren Reihen, war es auch nicht mehr. Irgendwann am ersten oder zweiten Reisetag einer Tour landeten wir wie zufällig an einem ruhigen Ort und plauderten, als hätten wir erst gestern damit aufgehört. Frau G liebte Bücher, das verband. Nach meinen Führungen, wenn die meisten anderen Reiseteilnehmer sich ans Fotografieren machten oder ans Shopping, sind wir oft noch spazieren gegangen, durch Museen, durch Kirchen oder Schlösser.

Als ich von ihr erfuhr, dass ihre Krankheit unheilbar war, während unserer letzten Reise vor einem Jahr und ein paar Monaten, war ich natürlich vor allem traurig.„Seien Sie nicht traurig“, sagte sie. „Ich verrate Ihnen, wie das nun weitergeht.“

Und dann hat mir ein Mensch gezeigt, wie man auch gehen kann.

Als Frau G sich nach Konsultationen mehrerer Ärzte sicher war, dass sie nur noch die Wahl hatte, einen langen oder einen kurzen Kampf zu verlieren, hat sie, wie sie es ausdrückte, beschlossen, einen kurzen Kampf zu gewinnen.

Sie hat ihre Angelegenheiten geordnet (wie ich sie kannte, war da nicht mehr viel zu tun, sie war sehr ordnungsbewusst), und dann kam das Schwere:

„Sie wissen ja, Alexander, dass ich nicht gläubig bin, nicht im Sinn unserer Kirchen. Ich glaube auch nicht an ein Weiterleben nach dem Tod, aber ich bin mir sicher, dass dann nicht einfach alles vorbei ist.“ Sie hatte dafür eine sehr logische, mathematische Erklärung: „Es kann sein, dass „Nichts“ folgt, aber es kann auch sein, dass „Etwas“ folgt, und „Etwas“ beinhaltet eine unendliche Menge an Möglichkeiten, während „Nichts“ nur eine Facette in der Unendlichkeit von „Etwas“ darstellt. So ist es doch etwas (Augenzwinkern) wahrscheinlicher, dass nicht „Nichts“ folgt, oder?“ Dem war nicht zu widersprechen.

Sie war richtiggehend neugierig auf das, was sie erwartete, und uns alle. Aber sie wollte frohen Mutes gehen, wann und wie sie wollte, und sie wollte die paar Menschen in ihrer Nähe nicht belügen. „Persönlich hätte ich das nicht gekonnt, das wäre zu viel gewesen, weniger meinetwegen, ich bin ja nun vorbereitet. Aber meinen Lieben hätte ich es nicht ansehen wollen, welchen Schmerz es ihnen verursacht, dass meine Zeit abgelaufen ist.“

Also schrieb sie einen Brief, an eine mir nicht bekannte Anzahl von Menschen, aber es waren, glaube ich, nicht viele, die das nach der jeweiligen Anrede lasen:

„Wie ich seit einiger Zeit zur Kenntnis nehmen muss, ist meine Anwesenheit hier inzwischen definierbar. Das ist sie von uns allen, aber in meinem Fall kommt das wohl etwas früher als erwartet, und ich weiß es eben jetzt.Du weißt, dass ich ein kleines, aber frohes Leben geführt habe, nicht zuletzt dank Dir. Ich habe nie viel Angst gekannt, außer vor Schmerzen, und außer vor der Möglichkeit eines Verfalls bei mehr oder weniger guter geistiger Gesundheit. Vor einem Pflegeheim habe ich mich gefürchtet, und davor, nicht Abschied nehmen zu können von Dir und einigen anderen.

Alle diese Ängste bin ich jetzt los. Mir geht es damit – ehrlich – gut. Was bleibt, ist die Unumgänglichkeit, Dir, Euch nun diesen Schmerz zufügen zu müssen. Und es bleibt die Ungeheuerlichkeit, Dich, Euch um einen letzten Liebesdienst ersuchen zu müssen.

Ich bitte Dich, mit niemandem darüber zu sprechen, von dem Du nicht genau weißt, dass er oder sie Bescheid weiß, wie ich Dir gerade Bescheid gebe. Es wäre auch schön, und Ihr würdet mir damit sehr helfen, wenn auch wir nicht darüber zu reden brauchten.

Das Leben geht weiter, Deines hoffentlich so lange und glücklich wie Du es Dir nur wünschst, meines ebenso. Es gibt einen Zeitraum, ab dem ich nicht mehr hier sein werde. Aber Du weißt, dass ich dasein werde, wenn immer Du an mich denkst, und daran, was wir erlebt haben. Ich bin mir auch sicher, dass eines fernen Tages, wenn auch für Dich der Abschied kommt, eine Tür aufgehen wird dorthin, wo wir wieder verbunden sein werden. Es wird keine ‚Tür‘ sein und kein ‚dort‘, jenseits von Zeit und Raum, aber nur weil wir uns das nicht vorstellen können, ist das bloß ein starkes Indiz mehr dafür, dass das so sein wird.

Meine Dinge sind geregelt. In jeder Hinsicht. Wo meine Urne landet, wird sich weisen, aber es wird bloß eine Urne sein.

Ein bisschen Zeit habe ich noch, wir werden einander noch wiedersehen, auch hier. Wenn es aber dann so weit sein wird, gib mich frei. Ich werde das auch tun. Ich werde fröhlich gehen, und dankbar, für mein Leben, für meine Familie und meine Freunde, für Dich. Bitte gönn‘ mir das.“

Dann folgten persönlichere Zeilen an die verschiedenen Empfänger. Mir schrieb sie (einiges muss ich auslassen):„Ihnen, Alexander, wünsche ich, dass Sie Ihr Glück weiterhin auf Ihren Reisen finden solange das geht. Und in Ihrer Familie, zu der ich Sie ja immer nur beglückwünschen konnte. Ich danke Ihnen für unsere abgezweigten kleinen Stunden, die ich sehr genossen habe, und dafür, was für Gedanken Sie haben. Mein letztes Brieferl können Sie ruhig in Ihren feinen Blog nehmen, vielleicht macht sowas anderen Mut.

Farewell.“

Von ihrem Ableben erfuhr ich in Frankreich, von ihrer Tochter. Ich weiß nicht, wann und wo und ob ihr Begräbnis war, aber darum ging es mir nicht. Ihr auch nicht, das weiß ich. Sie wird mitsein auf meinen künftigen Reisen, und ich werde noch oft und gerne an sie denken.

Halt‘ mir ein Platzerl frei, Felicitas, und lass es Dir gutgeh’n. Und danke dafür, dass es Dich gab und gibt.

Do not stand at my grave and weep

I am not there. I do not sleep.

I am a thousand winds that blow.

I am the diamond glints on snow.

I am the sunlight on ripened grain.

I am the gentle autumn rain.

When you awaken in the morning’s hush

I am the swift uplifting rush.

Of quiet birds in circled flight.

I am the soft stars that shine at night.

Do not stand at my grave and cry;

I am not there. I did not die.

Mary Elizabeth Frye

Steht nicht an meinem Grab und weint,

denkt an mich, wenn die Sonne scheint.

Ich bin nicht mehr an diesem Ort,

Ich schlafe nicht und bin nicht fort.

Ich bin der Wind über brausender See,

Ich bin der Schimmer auf frischem Schnee.

Ich bin die Sonne in goldener Pracht,

Ich bin der Glanz der Sterne bei Nacht.

Ich bin die Freude der Blumen die blühn,

Ich bin für Euch in allem was schön.

Steht nicht an meinem Grab und weint,

denkt an mich, wenn die Sonne scheint.

Ich bin nicht mehr an diesem Ort,

Ich schlafe nicht und bin nicht fort.

 

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